Samstag, 19. August 2006
Vom Antisemitismus zum Nationalsozialismus
Nationalismus bezeichnet eine politische Ideologie, die auf eine Kongruenz zwischen einer (meist ethnisch definierten) Nation und einem Staatsgebilde abzielt (Gellner, 1983). Das Nationalgefühl des Einzelnen gilt als gefühlsmäßige Bindung an die Idee der Nation und setzt nicht zwingend einen Staat voraus. In der Umgangssprache wird unter Nationalismus oft die Überhöhung der eigenen Nation verstanden. Dem entgegen steht der weniger politische als romantisch-emotionale Patriotismus, der anderen Nationen den gleichen Patriotismus zubilligt, und sich als Einsatzbereitschaft für die Werte und Symbole eines Landes versteht, jedoch auch in N. münden kann (Brockhaus, 2004).

Noch 1880 belegte der Begriff „Antisemitismus“ vor allem eine parteipolitische Zielsetzung gegen einen vermeintlich übergroßen jüdischen Einfluss. Nach Darwins Tod 1882 wurden dessen Theorien jedoch immer stärker rassistisch umgedeutet. So forderte z.B. Paul de Lagarde in Juden und Indogermanen 1887 die Einheit von „Rasse und Volk“ unter Ausschluss des Judentums. Er beklagte, dass in Berlin mehr Juden lebten als in Palästina, und forderte, „dies wuchernde Ungeziefer zu zertreten":[25]
Mit Trichinen und Bacillen wird nicht verhandelt, Trichinen und Bacillen werden auch nicht erzogen, sie werden so rasch und so gründlich wie möglich vernichtet.
Man redete nun von der „Zersetzungskraft jüdischen Blutes“ und wandte sich gegen die „Vermischung“ der „Rassen“, um so eine Radikallösung nahezulegen. Nun wurden auch „Halb“- oder „Viertel“-Juden zum Judentum gezählt, während die „arische Rasse“ immer stärker zur einheitsstiftenden Idee wurde. Deren „Notwehr“ gegen die Juden wurde als eine Art Naturgesetz dargestellt. Damit wurde das Recht des Stärkeren gegenüber Natur- und Menschenrecht deterministisch legitimiert.
1899 forderte der Brite Houston Stewart Chamberlain – ein Schwiegersohn Richard Wagners – in seinem Buch Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts als Erster die „Reinheit der arischen Rasse“ gegen „Vermischung“. Das Buch las Kaiser Wilhelm II. persönlich seinen Kindern vor und empfahl es als Lehrstoff für die Kadettenschulen. – 1914 gingen die beiden Antisemiten-Parteien in der Deutschvölkischen Partei (DVP) des Kaiserreichs auf. Deren Hamburger Programm forderte die „völlige Absonderung“ und zuletzt die unabwendbare „Vernichtung“ der Juden als „Weltfrage“ des 20. Jahrhunderts.
Zunächst überlagerte der Erste Weltkrieg die innenpolitischen Fronten und band alle Deutschen in vermeintlich patriotische Pflichten ein. Etwa 100.000 Juden meldeten sich auf Drängen ihrer Vereine freiwillig zum deutschen Militärdienst. Dies schmälerte die Popularität judenfeindlicher Propaganda nicht. 1916 reagierte der Kriegsminister Hohenborn mit der Judenzählung auf verstärkte Hetze, Juden seien Drückeberger, die sich häufiger krank meldeten an der Front als Nichtjuden. Als die statistische Erhebung im Gegenteil einen höheren Anteil nichtjüdischer Dienstverweigerer ergab, hielt der Minister sie unter Verschluss.
Die antisemitische Propaganda ging jedoch kaum vermindert weiter: Artur Dinter schrieb 1917 den Bestseller Die Sünde wider das Blut. Darin zeigte er, wie sehr antisemitische Stereotypen auch mit körperlichen Zuschreibungen verbunden waren. Als Herausgeber eines „judenreinen“ Neuen Testaments für die antisemitische Geistchristliche Religionsgemeinschaft (1927) wurde er zum Ideengeber der späteren Deutschen Christen.
Als die Novemberrevolution 1918 das Kriegsende und die Flucht des Kaiser erzwang, traten die ungelösten sozialen Gegensätze offen hervor, die der Krieg nur verschärft hatte. In der Nachkriegsnot nahm der Antisemitismus neuen Aufschwung. Offiziere und große Teile des Bürgertums lasteten ihre Niederlage und die Auflagen des Versailler Vertrags den „jüdischen“ Führern der Arbeiterbewegung an. Sie erweiterten das Feindbild der „jüdischen Weltverschwörung“: Der „jüdisch-bolschewistische“ Revolutionär sei dem „im Felde unbesiegten" Heer heimtückisch in den Rücken gefallen. Er trachte danach, Deutschland zu versklaven und alle kulturellen Werte der Nation zu vernichten. Dabei verwies man auf jüdische Namen unter führenden russischen wie deutschen Revolutionären während der Räterepubliken. Diese Propaganda fand durch die 1919 auf Deutsch veröffentlichten Protokolle der Weisen von Zion neue Nahrung.
Republikfeindliche Antisemiten fanden sich nun in mehreren rechtsextremen und bürgerlich-konservativen Parteien, vor allem in der DNVP. Die Deutsche Burschenschaft z.B. beschloss 1921 die Ausgrenzung ihrer jüdischen Mitglieder. Nach einer von einigen Medien unterstützten Hetzkampagne ermordeten paramilitärische Geheimbünde wie die Organisation Consul Symbolfiguren ihres Judenhasses, darunter 1922 Außenminister Walther Rathenau. Der gestürzte Wilhelm II. selbst forderte die „Ausrottung“ der Juden. Diese antidemokratische Ablehnung der „Judenrepublik" im reaktionären Bürgertum war nach Ansicht vieler Historiker eine entscheidende Weichenstellung und Zuspitzung, die den Siegeszug des Nationalsozialismus vorbereitete.
Für den Weltkriegsgefreiten Adolf Hitler war die Revolution 1918 das „Schlüsselerlebnis“ für seine Hinwendung zur Politik. Wie die meisten Nationalisten empfand er sie als „Dolchstoß“ von „jüdischen Verrätern“. Den Antisemitismus hatte er nach eigener Aussage schon in seiner Jugend vom Wiener Bürgermeister und Publizisten Karl Lueger übernommen. In einem als bestelltes „Gutachten" deklarierten Brief vom 16. September 1919 schrieb er seine Haltung zur „Judenfrage“ nieder:[26]
Der Antisemitismus aus rein gefühlsmäßigen Gründen wird seinen letzten Ausdruck finden in der Form von Pogromen. Der Antisemitismus der Vernunft jedoch muß führen zur planmäßigen gesetzlichen Bekämpfung und Beseitigung der Vorrechte der Juden, die er zum Unterschied der anderen zwischen uns lebenden Fremden besitzt (Fremdengesetzgebung). Sein letztes Ziel aber muß unverrückbar die Entfernung der Juden überhaupt sein.
Der Hitlerputsch in München 1923 reagierte ausdrücklich auf den dortigen Versuch der Räterepublik 1918/19. 1924 schrieb Hitler in der Festungshaft seine Autobiographie Mein Kampf: Darin bekannte er sich offen zum Programm des Antisemitismus und kündete seine Strategie an, es politisch und militärisch durchzusetzen, um die Vernichtung aller Juden zu erreichen. Sogar den Gasmord deutete er bereits an: eine Idee, die er aus seinen Fronterfahrungen mit chemischen Massenvernichtungsmitteln gewann. Er sah darin eine Art Mission zur Befreiung der Menschheit vom angeblichen Weltjudentum, auf dessen Verschwörung gegen die „arische Herrenrasse" er den angloamerikanischen Kapitalismus und russischen Bolschewismus gleichermaßen zurückführte.
Für diese Ziele fand sich jedoch längst vor Gründung der NSDAP ein aufnahmebereites Umfeld: Große Teile der deutschen Studenten- und Akademikerschaft huldigten ungebrochen dem Antisemitismus der Kaiserzeit. Mit der Propagierung der „nationalen Revolution“ wurden viele Studentenverbindungen zum Steigbügelhalter des Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbunds (NSDStB). Mit diesem Schlagwort fanden preußische Konservative, bürgerliche Monarchisten, Staatsbegeisterte und Volkstumsverehrer ihren gemeinsamen faschistischen Nenner.
Nach den Reichstagswahlen 1928, bei denen die NSDAP nur 2,6 Prozent der Stimmen erhielt, wurden alle Parteigliederungen angewiesen, die antisemitische Propaganda zu vermindern, da diese vor allem in bürgerlichen Kreisen abschreckend wirkte. Stattdessen setzte die Partei nun vor allem auf außenpolitische Themen wie den Young-Plan und die sozialen Folgen der Weltwirtschaftskrise.
Sofort nach der Machtergreifung am 30. Januar 1933 verfolgten die Nationalsozialisten aber wieder ihr altes antisemitisches Programm von 1920, die Juden aus der deutschen Gesellschaft zu verdrängen.

Diese Politik zielte zuerst auf die Vertreibung aller deutschen Juden. In nie zuvor gekannter Schärfe und Konsequenz führten die Maßnahmen des NS-Regimes über Geschäftsboykotte, Berufsverbote, Emigrationsdruck, die Nürnberger Rassengesetze, die „Reichskristallnacht“, „Arisierung“, Ghettoisierung bis zur Planung und Durchführung der „Endlösung der Judenfrage“. Seit 1939 kündete Hitler offen diese „Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa“ an; im Herbst 1941 wurde sie begonnen. Allein diese industriell organisierte Massenvernichtung – im jüdischen Selbstverständnis Shoa („Unheil, Katastrophe“) genannt – forderte um die sechs Millionen Opfer.
Auch Osteuropäer, besonders Russen und Polen, wurden als „Slawen“ rassistisch abgewertet und massenhaft Opfer der deutschen Arbeits- und Vernichtungslager und der Zwangsarbeit; doch zielte diese Politik anders als bei den Juden nicht auf ihre völlige Vernichtung. Zwar wandten sich die Nationalsozialisten in einem Dekret vom Mai 1943 vom Begriff „Antisemitismus“ ab: Ihr Ideologe Alfred Rosenberg gab eine neue Sprachregelung vor, um den neugewonnenen arabischen Verbündeten gegenüber nicht den Eindruck zu erwecken, man „werfe Araber mit den Juden in einen Topf“. Doch der Judenmord ging unvermindert weiter und wurde sogar noch intensiviert, als mit der verlorenen Schlacht um Stalingrad und dem Kriegseintritt der USA die Kriegsniederlage feststand.
Das deutsche NS-Regime steht daher für die unerreicht mörderische Umsetzung einer von Beginn an menschenverachtenden Ideologie.

Nach herrschender Meinung ist Nationalismus ein Phänomen der Moderne. Ein früher, damals zunächst voluntaristischer, moderner Nationenbegriff bildete sich in der Französischen Revolution heraus. Im 19. Jahrhundert wurde jedoch nationalistische Mythenbildung betrieben, um die neugeschaffenen Nationen als Traditionsgemeinschaften zu verankern (Vorreiter dieser Mythenbildungen waren in Deutschland vor allem Herder und Fichte, in Italien Mazzini).

Vor dem 18. Jahrhundert wich der Begriff der Nation so stark von modernen Vorstellungen ab, dass „vormoderner“ Nationalismus vermutlich lediglich eine Projektion aus heute omnipräsenter (Billig, 1995) nationalistischer Perspektive ist. Vor der Herausbildung moderner Nationen standen nach Auffassung modernistischer Theoretiker andere, meist persönliche Bindungen (beispielsweise an den Lehnsherren) im Zentrum der meisten Gruppenzugehörigkeiten.

Tatsächlich sind quasi-nationalstaatliche Instititutionen eine Grundvoraussetzung zur Entstehung einer über den Personenverband hinausgehenden nationalen Identität. Im Nationalismus wird die vormals personengebundene Loyalität (Königtum etc.) in einer abstrakten überpersonalen Ebene verallgemeinert. Ein persönlicher Umgang miteinander, wie er in einer Dorfgemeinschaft oder am Fürstenhof alltäglich war, wurde nun auch auf Personen projiziert, die nicht in direktem Kontakt miteinander stehen konnten. Unter Bezugnahme auf vermeintliche oder tatsächliche Gemeinsamkeiten in Geschichte, Sprache und Kultur, die in vielen Fällen - wie zum Beispiel durch die Normierung der deutschen Sprache in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts - erst während der Nationsbildung entstanden sind, wurde eine nationale Gemeinschaft konstitutiert. Diese Gemeinschaft reproduziert sich zum Beispiel durch nationalstaatliche Instititutionen (Behörden, Schulen etc.) selbst.

In Europa bekam der Nationalismus einen erheblichen Schub durch die Ideen der Französischen Revolution. In ihrer Folge wurde die Idee der Volkssouveränität populär, welche sowohl einen demokratischen als auch einen nationalen Ansatz hat. Die in ihrer Folge entstehende Theoriebildung mit zahlreicher Literatur darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Nationalismus auch ohne theoretische Begriffsbildung bereits bestand.

Als im Volke populär und den konservativen Kräften der Restauration entgegenstehend zeigten sich die national und demokratisch gesonnenen Bewegungen der Revolutionen von 1848/1849. Beginnend mit der französischen Februarrevolution sprang der Funke auf fast ganz Europa über, auch auf die Fürstentümer des Deutschen Bundes, darunter die Monarchien Preußen und Österreich als dessen mächtigste Staaten (Märzrevolution).

In den geschichtlichen Vordergrund getreten sind letztlich aber die nationalen Antagonismen, die nach dem rasanten technischen Fortschritt des 19. und 20. Jahrhunderts. zu den verheerenden Ergebnissen moderner Kriegsführung mit Millionen von Toten führten.

Aber auch der Zerfall von Machtstrukturen führt zum Ausbrechen nationalistischer Bestrebungen, etwa beim Zusammenbruch der Kolonialreiche in der Folge des Zweiten Weltkrieges. Die nach Unabhängigkeit strebenden ehemaligen Kolonialvölker erreichten zum Teil in blutigen Befreiungskriegen ihre Selbständigkeit. Dabei griffen sie auf die bereits bekannten Prinzipien des Nationalismus zurück und setzten dessen emanzipatorisches Element, verbunden mit einem politischen Gleichheitsversprechen gegenüber allen zur Nation zählenden Menschen ein, um den Kolonialismus zu delegitimieren.

Hier zeigt sich wieder sein Doppelcharakter: Inklusion und Exklusion sind elementare Bestandteile des Nationalismus. Während einerseits die politische Gleichheit der in einer Nation vereinten Gruppe betont wird, erfolgt gleichzeitig der Ausschluss der nicht zur Nation gehörigen Gruppen. Dies kann von einer kommunikativen Betonung der Andersartigkeit dieser Ausgeschlossenen bis zu ihrem physischen Ausschluss (ethnische Säuberung) oder ihrer Vernichtung führen (Holocaust).

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