Samstag, 19. August 2006
Vom Antisemitismus zum Nationalsozialismus
Nationalismus bezeichnet eine politische Ideologie, die auf eine Kongruenz zwischen einer (meist ethnisch definierten) Nation und einem Staatsgebilde abzielt (Gellner, 1983). Das Nationalgefühl des Einzelnen gilt als gefühlsmäßige Bindung an die Idee der Nation und setzt nicht zwingend einen Staat voraus. In der Umgangssprache wird unter Nationalismus oft die Überhöhung der eigenen Nation verstanden. Dem entgegen steht der weniger politische als romantisch-emotionale Patriotismus, der anderen Nationen den gleichen Patriotismus zubilligt, und sich als Einsatzbereitschaft für die Werte und Symbole eines Landes versteht, jedoch auch in N. münden kann (Brockhaus, 2004).

Noch 1880 belegte der Begriff „Antisemitismus“ vor allem eine parteipolitische Zielsetzung gegen einen vermeintlich übergroßen jüdischen Einfluss. Nach Darwins Tod 1882 wurden dessen Theorien jedoch immer stärker rassistisch umgedeutet. So forderte z.B. Paul de Lagarde in Juden und Indogermanen 1887 die Einheit von „Rasse und Volk“ unter Ausschluss des Judentums. Er beklagte, dass in Berlin mehr Juden lebten als in Palästina, und forderte, „dies wuchernde Ungeziefer zu zertreten":[25]
Mit Trichinen und Bacillen wird nicht verhandelt, Trichinen und Bacillen werden auch nicht erzogen, sie werden so rasch und so gründlich wie möglich vernichtet.
Man redete nun von der „Zersetzungskraft jüdischen Blutes“ und wandte sich gegen die „Vermischung“ der „Rassen“, um so eine Radikallösung nahezulegen. Nun wurden auch „Halb“- oder „Viertel“-Juden zum Judentum gezählt, während die „arische Rasse“ immer stärker zur einheitsstiftenden Idee wurde. Deren „Notwehr“ gegen die Juden wurde als eine Art Naturgesetz dargestellt. Damit wurde das Recht des Stärkeren gegenüber Natur- und Menschenrecht deterministisch legitimiert.
1899 forderte der Brite Houston Stewart Chamberlain – ein Schwiegersohn Richard Wagners – in seinem Buch Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts als Erster die „Reinheit der arischen Rasse“ gegen „Vermischung“. Das Buch las Kaiser Wilhelm II. persönlich seinen Kindern vor und empfahl es als Lehrstoff für die Kadettenschulen. – 1914 gingen die beiden Antisemiten-Parteien in der Deutschvölkischen Partei (DVP) des Kaiserreichs auf. Deren Hamburger Programm forderte die „völlige Absonderung“ und zuletzt die unabwendbare „Vernichtung“ der Juden als „Weltfrage“ des 20. Jahrhunderts.
Zunächst überlagerte der Erste Weltkrieg die innenpolitischen Fronten und band alle Deutschen in vermeintlich patriotische Pflichten ein. Etwa 100.000 Juden meldeten sich auf Drängen ihrer Vereine freiwillig zum deutschen Militärdienst. Dies schmälerte die Popularität judenfeindlicher Propaganda nicht. 1916 reagierte der Kriegsminister Hohenborn mit der Judenzählung auf verstärkte Hetze, Juden seien Drückeberger, die sich häufiger krank meldeten an der Front als Nichtjuden. Als die statistische Erhebung im Gegenteil einen höheren Anteil nichtjüdischer Dienstverweigerer ergab, hielt der Minister sie unter Verschluss.
Die antisemitische Propaganda ging jedoch kaum vermindert weiter: Artur Dinter schrieb 1917 den Bestseller Die Sünde wider das Blut. Darin zeigte er, wie sehr antisemitische Stereotypen auch mit körperlichen Zuschreibungen verbunden waren. Als Herausgeber eines „judenreinen“ Neuen Testaments für die antisemitische Geistchristliche Religionsgemeinschaft (1927) wurde er zum Ideengeber der späteren Deutschen Christen.
Als die Novemberrevolution 1918 das Kriegsende und die Flucht des Kaiser erzwang, traten die ungelösten sozialen Gegensätze offen hervor, die der Krieg nur verschärft hatte. In der Nachkriegsnot nahm der Antisemitismus neuen Aufschwung. Offiziere und große Teile des Bürgertums lasteten ihre Niederlage und die Auflagen des Versailler Vertrags den „jüdischen“ Führern der Arbeiterbewegung an. Sie erweiterten das Feindbild der „jüdischen Weltverschwörung“: Der „jüdisch-bolschewistische“ Revolutionär sei dem „im Felde unbesiegten" Heer heimtückisch in den Rücken gefallen. Er trachte danach, Deutschland zu versklaven und alle kulturellen Werte der Nation zu vernichten. Dabei verwies man auf jüdische Namen unter führenden russischen wie deutschen Revolutionären während der Räterepubliken. Diese Propaganda fand durch die 1919 auf Deutsch veröffentlichten Protokolle der Weisen von Zion neue Nahrung.
Republikfeindliche Antisemiten fanden sich nun in mehreren rechtsextremen und bürgerlich-konservativen Parteien, vor allem in der DNVP. Die Deutsche Burschenschaft z.B. beschloss 1921 die Ausgrenzung ihrer jüdischen Mitglieder. Nach einer von einigen Medien unterstützten Hetzkampagne ermordeten paramilitärische Geheimbünde wie die Organisation Consul Symbolfiguren ihres Judenhasses, darunter 1922 Außenminister Walther Rathenau. Der gestürzte Wilhelm II. selbst forderte die „Ausrottung“ der Juden. Diese antidemokratische Ablehnung der „Judenrepublik" im reaktionären Bürgertum war nach Ansicht vieler Historiker eine entscheidende Weichenstellung und Zuspitzung, die den Siegeszug des Nationalsozialismus vorbereitete.
Für den Weltkriegsgefreiten Adolf Hitler war die Revolution 1918 das „Schlüsselerlebnis“ für seine Hinwendung zur Politik. Wie die meisten Nationalisten empfand er sie als „Dolchstoß“ von „jüdischen Verrätern“. Den Antisemitismus hatte er nach eigener Aussage schon in seiner Jugend vom Wiener Bürgermeister und Publizisten Karl Lueger übernommen. In einem als bestelltes „Gutachten" deklarierten Brief vom 16. September 1919 schrieb er seine Haltung zur „Judenfrage“ nieder:[26]
Der Antisemitismus aus rein gefühlsmäßigen Gründen wird seinen letzten Ausdruck finden in der Form von Pogromen. Der Antisemitismus der Vernunft jedoch muß führen zur planmäßigen gesetzlichen Bekämpfung und Beseitigung der Vorrechte der Juden, die er zum Unterschied der anderen zwischen uns lebenden Fremden besitzt (Fremdengesetzgebung). Sein letztes Ziel aber muß unverrückbar die Entfernung der Juden überhaupt sein.
Der Hitlerputsch in München 1923 reagierte ausdrücklich auf den dortigen Versuch der Räterepublik 1918/19. 1924 schrieb Hitler in der Festungshaft seine Autobiographie Mein Kampf: Darin bekannte er sich offen zum Programm des Antisemitismus und kündete seine Strategie an, es politisch und militärisch durchzusetzen, um die Vernichtung aller Juden zu erreichen. Sogar den Gasmord deutete er bereits an: eine Idee, die er aus seinen Fronterfahrungen mit chemischen Massenvernichtungsmitteln gewann. Er sah darin eine Art Mission zur Befreiung der Menschheit vom angeblichen Weltjudentum, auf dessen Verschwörung gegen die „arische Herrenrasse" er den angloamerikanischen Kapitalismus und russischen Bolschewismus gleichermaßen zurückführte.
Für diese Ziele fand sich jedoch längst vor Gründung der NSDAP ein aufnahmebereites Umfeld: Große Teile der deutschen Studenten- und Akademikerschaft huldigten ungebrochen dem Antisemitismus der Kaiserzeit. Mit der Propagierung der „nationalen Revolution“ wurden viele Studentenverbindungen zum Steigbügelhalter des Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbunds (NSDStB). Mit diesem Schlagwort fanden preußische Konservative, bürgerliche Monarchisten, Staatsbegeisterte und Volkstumsverehrer ihren gemeinsamen faschistischen Nenner.
Nach den Reichstagswahlen 1928, bei denen die NSDAP nur 2,6 Prozent der Stimmen erhielt, wurden alle Parteigliederungen angewiesen, die antisemitische Propaganda zu vermindern, da diese vor allem in bürgerlichen Kreisen abschreckend wirkte. Stattdessen setzte die Partei nun vor allem auf außenpolitische Themen wie den Young-Plan und die sozialen Folgen der Weltwirtschaftskrise.
Sofort nach der Machtergreifung am 30. Januar 1933 verfolgten die Nationalsozialisten aber wieder ihr altes antisemitisches Programm von 1920, die Juden aus der deutschen Gesellschaft zu verdrängen.

Diese Politik zielte zuerst auf die Vertreibung aller deutschen Juden. In nie zuvor gekannter Schärfe und Konsequenz führten die Maßnahmen des NS-Regimes über Geschäftsboykotte, Berufsverbote, Emigrationsdruck, die Nürnberger Rassengesetze, die „Reichskristallnacht“, „Arisierung“, Ghettoisierung bis zur Planung und Durchführung der „Endlösung der Judenfrage“. Seit 1939 kündete Hitler offen diese „Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa“ an; im Herbst 1941 wurde sie begonnen. Allein diese industriell organisierte Massenvernichtung – im jüdischen Selbstverständnis Shoa („Unheil, Katastrophe“) genannt – forderte um die sechs Millionen Opfer.
Auch Osteuropäer, besonders Russen und Polen, wurden als „Slawen“ rassistisch abgewertet und massenhaft Opfer der deutschen Arbeits- und Vernichtungslager und der Zwangsarbeit; doch zielte diese Politik anders als bei den Juden nicht auf ihre völlige Vernichtung. Zwar wandten sich die Nationalsozialisten in einem Dekret vom Mai 1943 vom Begriff „Antisemitismus“ ab: Ihr Ideologe Alfred Rosenberg gab eine neue Sprachregelung vor, um den neugewonnenen arabischen Verbündeten gegenüber nicht den Eindruck zu erwecken, man „werfe Araber mit den Juden in einen Topf“. Doch der Judenmord ging unvermindert weiter und wurde sogar noch intensiviert, als mit der verlorenen Schlacht um Stalingrad und dem Kriegseintritt der USA die Kriegsniederlage feststand.
Das deutsche NS-Regime steht daher für die unerreicht mörderische Umsetzung einer von Beginn an menschenverachtenden Ideologie.

Nach herrschender Meinung ist Nationalismus ein Phänomen der Moderne. Ein früher, damals zunächst voluntaristischer, moderner Nationenbegriff bildete sich in der Französischen Revolution heraus. Im 19. Jahrhundert wurde jedoch nationalistische Mythenbildung betrieben, um die neugeschaffenen Nationen als Traditionsgemeinschaften zu verankern (Vorreiter dieser Mythenbildungen waren in Deutschland vor allem Herder und Fichte, in Italien Mazzini).

Vor dem 18. Jahrhundert wich der Begriff der Nation so stark von modernen Vorstellungen ab, dass „vormoderner“ Nationalismus vermutlich lediglich eine Projektion aus heute omnipräsenter (Billig, 1995) nationalistischer Perspektive ist. Vor der Herausbildung moderner Nationen standen nach Auffassung modernistischer Theoretiker andere, meist persönliche Bindungen (beispielsweise an den Lehnsherren) im Zentrum der meisten Gruppenzugehörigkeiten.

Tatsächlich sind quasi-nationalstaatliche Instititutionen eine Grundvoraussetzung zur Entstehung einer über den Personenverband hinausgehenden nationalen Identität. Im Nationalismus wird die vormals personengebundene Loyalität (Königtum etc.) in einer abstrakten überpersonalen Ebene verallgemeinert. Ein persönlicher Umgang miteinander, wie er in einer Dorfgemeinschaft oder am Fürstenhof alltäglich war, wurde nun auch auf Personen projiziert, die nicht in direktem Kontakt miteinander stehen konnten. Unter Bezugnahme auf vermeintliche oder tatsächliche Gemeinsamkeiten in Geschichte, Sprache und Kultur, die in vielen Fällen - wie zum Beispiel durch die Normierung der deutschen Sprache in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts - erst während der Nationsbildung entstanden sind, wurde eine nationale Gemeinschaft konstitutiert. Diese Gemeinschaft reproduziert sich zum Beispiel durch nationalstaatliche Instititutionen (Behörden, Schulen etc.) selbst.

In Europa bekam der Nationalismus einen erheblichen Schub durch die Ideen der Französischen Revolution. In ihrer Folge wurde die Idee der Volkssouveränität populär, welche sowohl einen demokratischen als auch einen nationalen Ansatz hat. Die in ihrer Folge entstehende Theoriebildung mit zahlreicher Literatur darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Nationalismus auch ohne theoretische Begriffsbildung bereits bestand.

Als im Volke populär und den konservativen Kräften der Restauration entgegenstehend zeigten sich die national und demokratisch gesonnenen Bewegungen der Revolutionen von 1848/1849. Beginnend mit der französischen Februarrevolution sprang der Funke auf fast ganz Europa über, auch auf die Fürstentümer des Deutschen Bundes, darunter die Monarchien Preußen und Österreich als dessen mächtigste Staaten (Märzrevolution).

In den geschichtlichen Vordergrund getreten sind letztlich aber die nationalen Antagonismen, die nach dem rasanten technischen Fortschritt des 19. und 20. Jahrhunderts. zu den verheerenden Ergebnissen moderner Kriegsführung mit Millionen von Toten führten.

Aber auch der Zerfall von Machtstrukturen führt zum Ausbrechen nationalistischer Bestrebungen, etwa beim Zusammenbruch der Kolonialreiche in der Folge des Zweiten Weltkrieges. Die nach Unabhängigkeit strebenden ehemaligen Kolonialvölker erreichten zum Teil in blutigen Befreiungskriegen ihre Selbständigkeit. Dabei griffen sie auf die bereits bekannten Prinzipien des Nationalismus zurück und setzten dessen emanzipatorisches Element, verbunden mit einem politischen Gleichheitsversprechen gegenüber allen zur Nation zählenden Menschen ein, um den Kolonialismus zu delegitimieren.

Hier zeigt sich wieder sein Doppelcharakter: Inklusion und Exklusion sind elementare Bestandteile des Nationalismus. Während einerseits die politische Gleichheit der in einer Nation vereinten Gruppe betont wird, erfolgt gleichzeitig der Ausschluss der nicht zur Nation gehörigen Gruppen. Dies kann von einer kommunikativen Betonung der Andersartigkeit dieser Ausgeschlossenen bis zu ihrem physischen Ausschluss (ethnische Säuberung) oder ihrer Vernichtung führen (Holocaust).

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Antisemitismus
Antisemitismus (auch: Anti-Semitismus) ist eine moderne Form allgemeiner Judenfeindlichkeit, die seit dem Ende des 18. Jahrhunderts auftritt und nicht mehr primär mit dem Christentum, sondern mit Nationalismus, Sozialdarwinismus und Rassismus begründet wird.
Antisemiten betrachten Juden pseudowissenschaftlich als geschlossene Abstammungseinheit mit negativen Eigenschaften, die angeblich erblich und somit auch durch einen Religionswechsel nicht zu verändern seien. Sie zählen daher auch getaufte Juden und ihre Nachfahren zu einer Minderheit, die sie für eine Vielzahl tatsächlich oder vermeintlich negativer Entwicklungen in Staat, Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur verantwortlich machen.
Diese Ideologie reagierte oft in Form einer Verschwörungstheorie auf europäische Moderne und Aufklärung und war zugleich eines ihrer Krisensymptome. Sie verband sich mit unterschiedlichen antiaufklärerischen, antidemokratischen, antikapitalistischen und antisozialistischen Zielen. Antisemitische Parteien forderten die Vertreibung und Vernichtung der europäischen Juden und bereiteten damit den Holocaust durch den Nationalsozialismus mit vor. Für dessen Weltanschauung und Programmatik war der Antisemitismus zentral.

Geschichte in Deutschland
Soziale Situation und Berufstruktur der jüdischen Minderheit
Die Juden bildeten um 1800 in den meisten Ländern Mitteleuropas die größte nichtchristliche Minderheit. Sie gehörten überwiegend zur Unterschicht, da ihnen die „ehrbaren“ Berufe verschlossen waren. Bereits seit dem Mittelalter waren ihnen Grunderwerb und Ackerbau, die Mitgliedschaft in Handwerkszünften und Kaufmannsgilden sowie der Aufstieg in den Adel verboten. Rechtlich galten sie im Römisch-deutschen Reich als Kammerknechte des Kaisers, der seine Herrschaftsrechte über sie, das so genannte Judenregal, im Laufe der Zeit an die Landesherren abtrat. Die Juden mussten diesen hohe Abgaben und Steuern leisten, wurden in den größeren Städten des Reichs in Ghettos gedrängt und waren immer wieder von Pogromen und dem Verlust ihrer materiellen Existenz bedroht. Schon die blutigen Massaker der Kreuzzüge hatten den jüdischen Fernhandel beendet. Der ihnen aufgrund des Zinsverbots für Christen zugewiesene Geldverleih wurde ihnen großenteils im Zusammenhang mit den Judenpogromen zur Zeit der Pest 1348-1350 wieder entzogen.
In der Frühen Neuzeit waren Judengemeinden zum Spielball der Interessenkämpfe zwischen Landesherren, Städten und Zünften geworden. Ein nichtjüdisches Kreditwesen war entstanden, Naturalabgaben waren durch Geldabgaben ersetzt worden und der Fernhandel hatte sich seit der Entdeckung Amerikas vom Mittelmeerraum zum Atlantik verlagert. So blieben ihnen nur bestimmte Nischen als Berufsbereiche, in denen sie zudem mit Nichtjuden konkurrieren mussten: das nicht-zünftige Handwerk, der Kramhandel, die Pfandleihe, das Kleinkredit-Gewerbe, Brauwesen und Schankwirtschaften, Hausierergeschäft und reisender Landhandel. Dort, wo sie zeitweise eine gehobene und für den Adel unentbehrliche Stellung als Zoll- und Steuerneinnehmer, Gutspächter, Holz- und Pferdehändler erreichten, z.B. im Polen des 16. Jahrhunderts, wurden sie später vom Kleinadel und aufstrebenden christlichen Bürgertum verdrängt. Nur eine sehr kleine Schicht von weniger als zwei Prozent erreichte den Status von wohlhabenden und geachteten „Hofjuden“ oder Ärzten mit hoher Bedeutung für ihre christlichen Herren. Die Masse lebte in „Judendörfern“ oder „Judengassen“ in religiöser, rechtlicher und ökonomischer Absonderung. Ihre Begegnungen mit der übrigen Bevölkerung beschränkten sich weitgehend auf Tauschgeschäfte und Märkte.
Einige Großstädte wie Frankfurt am Main hatten noch größere Judenghettos, die meisten jedoch hatten die Juden bis etwa 1670 aufs Land vertrieben. Rechtsunsicherheit und ständige Gefährdung begleiteten Judengemeinden auch im 18. Jahrhundert, als die Aufklärung ihre Gesellschaftsposition neu zu bewerten begann. Aus unterschiedlichen Gründen, vielfach aus Konkurrenz zu anderen bedrückten Ständen und städtischen Kaufleuten oder wegen Versorgungskrisen, vertrieb man oft - besonders mittel- und arbeitslose - Juden: z.B. 1745 aus Prag, 1750 aus Breslau, 1772 bis 1790 aus dem Bezirk Dresden. Dort, wo sie geduldet wurden, wurden ihre Niederlassung, Gewerbe und Heiratsmöglichkeiten vielfach beschränkt. Das Recht zur Ansiedlung war von einem Mindestvermögen abhängig. „Schutzbriefe“ von Landesherren, die sie aufnahmen, mussten mit hohen Sondersteuern bezahlt werden und galten nur befristet.
Hinzu kam seit etwa 1780 eine starke Westwanderung von meist verarmten Juden aus Osteuropa. Deren Vorfahren waren während der großen Pogromwellen des Mittelalters dorthin geflohen; nun trieb die restriktive Judenpolitik in Polen, Litauen, Russland und der Ukraine sie wieder westwärts. 1804 verfügte ein Statut, dass die Juden des Zarenreichs nur noch in bestimmten Grenzgebieten siedeln durften; in den Folgejahren wurden etwa 230.000 russische Dorfjuden ausgewiesen oder zwangsumgesiedelt. Ihr Zustrom verschärfte die Lage in mitteleuropäischen Regionen. Obwohl willkürliche Vertreibungen um 1800 weithin als Unrecht galten, nahmen Judenausweisungen von 1800 bis 1848 auch in Preußen zu. Die Folge war eine stetige Abnahme, Verkleinerung und Verelendung der verbliebenen Judengemeinden. Dies verstärkte wiederum das negative Außenbild von ihnen, das sich etwa in den Legenden vom heimatlos durch die Zeiten wandernden Ewigen Juden spiegelte.[2]
1820 lebten im deutschsprachigen Raum etwa 220.000 Juden. Diese Zahl wuchs bis zur Reichsgründung 1871 auf 380.000, bis 1900 auf 500.000 und erreichte um 1930 mit 570.000 ihr Maximum. Davon waren etwa ein Fünftel ausländischer Herkunft. Hier handelte es sich meist um zugewanderte „Ostjuden" aus Polen, dem Baltikum und Russland. Der Anteil von Juden an der deutschen Gesamtbevölkerung blieb jedoch konstant bei 1,2 bis 1,3 Prozent und sank seit 1890 auf ein Prozent ab. Aber große Anteile davon - um 1885: 30, um 1910: 60 Prozent - konzentrierten sich in den Großstädten, besonders Berlin mit 126.000 Juden um 1905. Besonders Ostjuden bewohnten oft aufgrund sprachlicher und sozialer Barrieren eigene Stadtviertel oder Enklaven und waren dadurch deutlich als Minderheit sichtbar.[3]
Die Berufsstruktur wandelte sich stark im Lauf des 19. Jahrhunderts: Lebten um 1800 noch die weitaus meisten Juden von Not- und Kleinhandel, so fiel dieser Anteil bis 1907 auf unter zehn Prozent. 62 Prozent aller Juden arbeiteten nun im Warenhandel und Verkehrswesen (gegenüber 13 Prozent der übrigen Deutschen), 27 Prozent in Handwerk und Industrie, acht Prozent bei öffentlichen und privaten Dienstleistern, 1,6 Prozent in Land- und Forstwirtschaft. Es gab also nach wie vor fast keine jüdischen Bauern und wenige Industriearbeiter, aber viele Warenhändler. Auch der Anteil der Freiberufe - seit dem preußischen Erziehungsgesetz von 1833 als Wendung der Juden zu „Wissenschaften und Künsten" gefördert - wuchs unter Juden überdurchschnittlich. Der Wohlstand vor allem städtischer Juden wuchs schneller als der der übrigen Deutschen, was Werner Sombart 1910 an ihren Steuerzahlungen nachwies. Auch die Zahl der von Juden geführten Großunternehmen und Banken wuchs bis 1914 an.[4]
Die seit Jahrhunderten vorgegebenen Diskriminierungs- und Ausgrenzungsmuster hatten sich immer auch auf reale soziale Unterschiede und Reibungsflächen bezogen. So konnten Juden besonders in langfristig unbegriffenen ökonomischen Umbrüchen und Krisen verstärkt als Ursache von Spannungen wahrgenommen und fixiert werden. Nicht zufällig fielen die Wellen des sich verstärkenden Antisemitismus z.B. 1819, 1873, 1879ff, 1918-24 und 1930ff zeitlich mit Wirtschaftskrisen zusammen.[5]
Aufklärung
Naturwissenschaftlicher Fortschritt und Humanismus veränderten seit dem Westfälischen Frieden von 1648 allmählich die Einstellung zur jüdischen Minderheit. Aus Rationalismus und Naturrecht leitete aufgeklärte Philosophie die politische und gesellschaftliche Gleichberechtigung aller Bürger ab. Vorbedingung bzw. Ziel war für sie die Überwindung des religiösen Aberglaubens. Der Antijudaismus galt den Gebildeten nun als irrational; aber auch sein Gegenpart, der „Judaismus", galt als überholte und hinderliche Unvernunft. Schon die englischen Deisten im 17. Jahrhundert bekämpften das Judentum wegen seines Offenbarungs- und Wunderglaubens, um so zugleich das orthodoxe Christentum zu unterhöhlen. Damit drängte das aufstrebende Bürgertum den kirchlichen Einfluss auf die Gesellschaft zurück, übernahm aber zugleich einen Großteil der tradierten antijüdischen Denk- und Verhaltensmuster.
Voltaire (1694–1778) führte das Christentum auf seinen jüdischen Ursprung zurück und lehnte beide Religionen von Grund auf ab. In seinem Werk finden sich wiederholt heftige Hasstiraden gegen Juden als „betrügerische Wucherer“, „diebische Geldverleiher“, den „Abschaum der Menschheit“ usw.. Er hielt diese Züge für angeborene, unveränderliche Eigenschaften. Trotzdem verteidigte er auch ihre Gewissensfreiheit und protestierte gegen damalige religiöse Verfolgungen.
Diderot (1713–1784) dagegen glaubte an die soziale Bedingtheit aller religiösen Erfahrung und damit an ihre Veränderbarkeit. Mit seinem Enzyklopädie-Projekt wollte er indirekt auch einen Beitrag zur Überwindung des jüdisch-christlichen religiösen „Wahns“ leisten.
Georg Christoph Lichtenberg (1742–1799) urteilte über „den Juden“: Er sei …ein unersättlicher, habgieriger Betrüger, besessen von einem skrupellosen Handels- und Schachergeist…, amoralisch, gerissen, hinterhältig und schmarotzerhaft. Er halte sich für viel zu intelligent, sei ausgesprochen anpassungsfähig, nutzlos und schädlich für die Umwelt, ein Paradigma des Bösen und eine Identifikation des Minderwertigen. So verglich er die Juden in seinen Sudelbüchern öfter mit Sperlingen, die damals als schlimme Flurschädlinge galten und massenhaft bekämpft wurden.
Sogar Immanuel Kant (1724–1804), der wie Goethe Juden zu seinen besten Freunden zählte und in seinem Sittengesetz biblische Grundgedanken vernunftgemäß entfaltete, nannte sie „Vampyre der Gesellschaft“ und meinte 1798:[6]
Die unter uns lebenden Palästinenser sind durch ihren Wuchergeist seit ihrem Exil in den nicht unbegründeten Ruf des Betruges… gekommen.
Er hielt das Christentum für sittlich überlegen und grenzte es scharf gegen das Judentum ab. Ohne Kenntnis der rabbinischen Tradition verlangte er von Juden die Abkehr von biblischen Ritualgesetzen und ein öffentliches Bekenntnis zur ethischen Vernunftreligion. Erst dann könnten sie Anteil an allen Bürgerrechten erhalten.
Johann Gottfried Herder (1744–1803) hielt die Juden für „verdorben“, „ehrlos“ und „amoralisch“. Er glaubte, dass nur Erziehung sie bessern könne, und forderte die Abkehr von ihrer Religion als Voraussetzung für ihre nationale und kulturelle Integration. Er deutete die Diaspora-Situation der jüdischen Minderheit als deren Unfähigkeit zu einem eigenen Staatsleben: Juden seien seit Jahrtausenden eine parasitische Pflanze auf den Stämmen anderer Nationen.[7]
John Toland (1670–1722), englischer Freidenker, sprach sich als Erster ausdrücklích für eine Befreiung der Juden von rechtlicher und kultureller Herabsetzung aus. Vor allem Moses Mendelssohn (1729–1786) kämpfte für diese Anerkennung seiner Religion, die er zugleich von innen liberalisieren und über sich selbst aufklären wollte (Haskala). Sein Freund Gotthold Ephraim Lessing (1729–1782) rief 1749 in seinem Lustspiel Die Juden dazu auf, die anachronistischen Vorurteile gegen sie aufzugeben. In seinem Drama Nathan der Weise (1779) forderte er die gegenseitige Toleranz der drei monotheistischen Weltreligionen, deren subjektive „Wahrheit“ objektiv unbeweisbar sei. Die Hauptfigur trägt deutlich Mendelssohns Züge und setzte ihm ein Denkmal. Lessing glaubte an die Aufhebung jedes religiösen Aberglaubens durch humanen Fortschritt und die pädagogische Erziehung des Menschengeschlechts (1781); auch den „jüdischen Kinderglauben“ an Tora und Talmud wollte er damit „überwinden“.
Von den wichtigen Theoretikern der Aufklärung war nur Montesquieu (1689-1755) bereit, das Judentum in seiner Eigenart anzuerkennen. Sonst empfahlen alle den Juden den Verzicht auf ihre Religion und Tradition und damit praktisch die Selbstaufgabe. Dennoch setzten sie die rechtliche Gleichstellung der Juden als Bürger auf die politische Tagesordnung.
Emanzipation und Reaktion
Hauptartikel: Jüdische Emanzipation
Die Situation der Juden ließ sich nur als späte Folge der bürgerlichen Demokratiebewegung ändern. Die Schrift des preußischen Archivars Christian Wilhelm Dohm Über die bürgerliche Verbesserung der Juden (1781) wurde einflussreiches Leitbild für solche Reformen. Doch um 1800 lasen und diskutierten nur wenige Gebildete und Adelige die Schriften der Aufklärer, während die einfache Bevölkerung Juden weiterhin als minderwertig und minderen Rechts behandelte. In den Umbrüchen des bürgerlichen Zeitalters fürchteten viele den Verlust ihrer bisherigen ökonomisch-sozialen Privilegien. Dies wog schwerer als die Aussicht auf mehr demokratische Partizipation. Daher war der Emanzipationsprozess - besonders für Juden im deutschsprachigen Raum - langwierig, mit ständigen Rückschlägen verbunden und nur mit staatlichen Verordnungen von „oben" durchsetzbar. Diese spiegelten durchweg eine von traditioneller christlicher Dominanz bestimmte Diskriminierung des Judentums.
Nach ersten Schritten wie dem Habsburger „Toleranzpatent“ 1781 brachte die französische Nationalversammlung den Juden 1791 erstmals in einem europäischen Land die vollen Bürgerrechte. Sie hob damit aber auch ihre bisherigen Sonderrechte – vor allem Gemeindeautonomie und Wehrdienstbefreiung – auf und zwang sie so zur Assimilation.
Der von Napoleon 1804 erlassene Code civil machte die prinzipielle Gleichberechtigung aller Bürger des Landes unabhängig von ihrer Religion auch in den von Frankreich eroberten Gebieten zum Gesetz: So erhielten z.B. die Juden des Rheinlands oder Hamburgs zum ersten Mal die bürgerlichen Freiheitsrechte. Doch bereits 1808 schränkte ein Dekret Napoleons diese wieder ein: Jüdische Kreditgeber mussten nachweisen, dass ihre Forderung an den Schuldner ohne „Betrug" zustande gekommen sei. Zinsen auf Darlehen wurden auf fünf Prozent begrenzt; bei mehr als zehn Prozent vereinbarten Zinsen verfiel der Gesamtbetrag. Zudem durften Juden nur noch mit Vorlage eines jährlich erneuerten Leumundszeugnisses („Judeneid“) Geschäfte abschließen. Dies bedeutete für viele jüdische Händler und Kaufleute den Ruin.[8]
Bis 1812 folgten fast alle deutschen Staaten Dohms Gleichstellungsforderungen, zuletzt Preußen mit dem Edikt betreffend die bürgerlichen Verhältnisse der Juden. Es gab diesen weitgehende Bürgerrechte, schloss sie aber weiterhin vom gehobenen Staatsdienst aus und galt nur für die schon eingebürgerten Juden altpreußischer Gebiete. Sie mussten für eine Studienberechtigung zudem am christlich-konfessionellen Religionsunterricht teilnehmen.
In den Folgejahren scheiterten Bestrebungen zur vollen Gleichberechtigung. Nach den Befreiungskriegen erlaubte der Wiener Kongress von 1814 den Staaten des Deutschen Bundes, den Juden ihre von Napoleon verfügten Rechte wieder zu nehmen. Daraufhin widerriefen sie ihre bisherigen Zugeständnisse. Im Gefolge der Hep-Hep-Unruhen von 1819 (s.u.) kam es sogar wieder zu Ausweisungen (Lübeck). 1822 verbot Friedrich Wilhelm III. Juden Lehrberufe in Preußen und entließ sie aus allen Staatsdiensten. Dies machte besonders die assimilierten, gebildeten Juden arbeitslos. Für Bildungschancen und gesichertes Einkommen ließen diese sich nun vermehrt christlich taufen: Heinrich Heine sah darin das „Entreebillet zur europäischen Kultur“.
Erst ab 1830 forderten auch liberale Demokraten die „bürgerliche Verbesserung“ der Juden wie der Bauern, um die feudale Ständegesellschaft abzuschaffen. Der deutschpatriotische Jude Gabriel Riesser kämpfte für volle Religionsfreiheit ohne diskriminierende soziale Folgen und sorgte dafür, dass die Frankfurter Nationalversammlung 1848 diese in die Grundrechte des deutschen Volkes aufnahm. Viele deutsche Staaten, die Napoleons Dekret von 1808 übernommen hatten, hoben es erst 1849 auf. Bis 1850 blieben die preußischen Berufsverbote in Kraft, so dass Juden weiterhin nur verachtete und unsichere Nischenberufe und Kleingewerbe blieben.
Nach dem Herzogtum Baden (1862), der Stadt Frankfurt am Main (1864), dem Norddeutschen Bund (1869) wurde schließlich 1871 die volle Gleichberechtigung der Juden gesamtdeutsches Staatsgesetz im Kaiserreich.[9]

Nationalismus und Frühantisemitismus
Am Vorabend der Französischen Revolution definierte Emmanuel-Joseph Sieyès in seiner einflussreichen Kampfschrift Was ist der Dritte Stand den Begriff der Nation als die Gesamtheit aller Bürgerlichen im Gegensatz zu den privilegierten Ständen von Adel und Klerus. Für die Pariser Revolutionäre von 1789 galten für alle Landesbewohner die gleichen Menschenrechte. Zur Nation konnte jeder gehören, der sich zu ihren Prinzipien von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit bekannte.
Auf diese offene und demokratische Definition reagierten andere Staaten wegen und nach der französischen Besetzung mit einer ethnischen, exklusiven, völkischen Auffassung von „Nation" als einer „Abstammungsgemeinschaft“. Diese wurde nicht gegen die privilegierten Stände, sondern gegen die Franzosen und alle anderen Fremden, darunter besonders auch die religiöse Minderheit der Juden, abgegrenzt.
Besonders in Deutschland verband sich der Nationalismus schon früh mit dem Antisemitismus und der Ablehnung demokratischer Ziele. Bereits vor 1848 sahen viele den angestrebten deutschen Nationalstaat als „Organismus“ und verbanden mit diesem biologischen Sprachbild häufig Kritik an „Volksschädlingen“, vor allem an den Juden. Anknüpfend an mittelalterliche Herabsetzungen der „Wucherer" wurden diese häufig als unproduktive „Schmarotzer" dargestellt.
Diese Sicht vertrat der Berliner Justizrat Karl Wilhelm Friedrich Grattenauer zu Beginn der preußischen Emanzipationsdebatte 1791 mit seiner Schrift Über die physische und moralische Verfassung der heutigen Juden, die unverhohlen zu ihrer Vertreibung aufforderte. Dies löste heftige öffentliche Debatten in Berlin aus, denen weitere Hassausbrüche Grattenauers (u.a. 1804: Wider die Juden) folgten, bis der Staat seine Schriften verbot.
Auch der Berliner Schriftsteller Friedrich Buchholz warnte 1803 (Jesus und Moses) vor der langwierigen „bürgerlichen Verbesserung" der Juden und bedauerte, dass ihre Vertreibung heutzutage nicht mehr möglich sei. Gleichwohl wurde diese Möglichkeit öffentlich ausführlich erörtert und blieb ständiges Drohmittel, um die Assimilation der Juden zu beschleunigen. In beiden Lösungsmodellen, Vertreibung wie „Verbesserung“, ging es darum, ihre Religion baldmöglichst verschwinden zu lassen.[14]
Auch der Schweizer Pädagoge Johann Heinrich Pestalozzi, der „Turnvater“ Friedrich Ludwig Jahn und der Völkerkundler Ernst Moritz Arndt waren bekennende Judenfeinde. Sie begründeten jene Volkstums-Ideen, auf die rassistische Antisemiten später zurückgriffen. Arndt schrieb z.B. im Kontext der Zuwanderung russischer und polnischer Juden nach Westeuropa:[15]
…Die Juden als Juden passen nicht in diese Welt und in diese Staaten hinein, und darum will ich nicht, dass sie auf eine ungebührliche Weise in Deutschland vermehrt werden. Ich will es aber auch deswegen nicht, weil sie ein durchaus fremdes Volk sind und weil ich den germanischen Stamm so sehr als möglich von fremdartigen Bestandteilen rein zu erhalten wünsche. [...] Ein gütiger und gerechter Herrscher fürchtet das Fremde und Entartete, welches durch unaufhörlichen Zufluß und Beimischung die reinen und herrlichen Keime seines edlen Volkes vergiften und verderben kann. Da nun aus allen Gegenden Europas die bedrängten Juden zu dem Mittelpunkt desselben, zu Deutschland, hinströmen und es mit ihrem Schmutz und ihrer Pest zu überschwemmen drohen, da diese verderbliche Überschwemmung vorzüglich von Osten her nämlich aus Polen droht, so ergeht das unwiderrufliche Gesetz, dass unter keinem Vorwande und mit keiner Ausnahme fremde Juden je in Deutschland aufgenommen werden dürfen, und wenn sie beweisen können, dass sie Millionenschätze bringen.
Während die meisten Staatsregierungen die Integration der Juden im Interesse aller Bürger auf lange Sicht bevorzugten, blieb lokale Judenvertreibung in vielen Provinzstädten denkbar und opportun. Deshalb aktivierten auch akademische Frühantisemiten gern „Volkes Stimme". Der Völkerkundler Friedrich Christian Rühs (1781-1820) z.B. schrieb in einem antijüdischen Traktat 1816: Könne man die Juden nicht zur Taufe bewegen, dann bliebe nur ihre Ausrottung. Dem stimmte der Philosoph Jakob Friedrich Fries in seinem Aufsatz Über die Gefährdung des Wohlstandes und Charakters der Deutschen durch die Juden zu:[16] Fragt doch einmal Mann vor Mann herum, ob nicht jeder Bauer, jeder Bürger sie als Volksverderber und Brotdiebe haßt und verflucht. Die „Gesellschaft prellsüchtiger Trödler und Händler" müsse ihre betrügerische Tätigkeit aufgeben oder der Staat müsse sie dazu zwingen, da andernfalls ihre gewaltsame Vertreibung unausweichlich sei. Er forderte, sich von der „jüdischen Pest“ zu befreien.
Ries war es auch, der bei der Gründung der Urburschenschaft auf dem Wartburgfest 1817 die anwesenden Studenten zu einer Bücherverbrennung aufhetzte. Dabei wurde auch die Schrift Germanomanie des jüdischen Autoren Saul Ascher, die sich kritisch mit Nationalismus und Verfolgungswahn der deutschen Patrioten auseinandersetzte, mit dem Ruf Wehe über die Juden! ins Feuer geworfen. Dies veranlasste Heinrich Heine 1819 zu der weitsichtigen Vorhersage:
Wo man Bücher verbrennt, verbrennt man am Ende auch Menschen.
Kriminalrat Christian Ludwig Paalzow schrieb 1817 einen Dialogroman Helm und Schild, der die Argumente für und wider das jüdische Bürgerrecht auf einen Juden (Helm) und einen Christen (Schild) verteilte und letzteren rhetorisch siegen ließ. Er verwies im Munde Schilds auf die angeblich zu starke Vermehrung der Juden, ihre politische Unzuverlässigkeit und Neigung zur Rebellion aufgrund ihres Messiasglaubens. Ihre Gewerbefreiheit werde ihnen die ökonomische Macht über die Mehrheit zufallen lassen. Um dies zu verhindern, müsse man sie rechtzeitig vertreiben, wenn sie nicht freiwillig gingen. Der Schaden durch ihren Verlust sei geringer als der Nutzen, sie los zu sein.
1821 veröffentlichte Hartwig von Hundt-Radowsky den Judenspiegel. Darin propagierte er u.a. den Verkauf jüdischer Kinder als Sklaven an die Engländer, um weitere jüdische Nachkommen zu verhindern, und schließlich unverhohlen die Vertilgung und Vertreibung aller Juden.
Heinrich Eugen Marcard forderte 1843 in Minden mit einer Petition die „Vertilgung" der Juden. Hermann von Scharff-Scharffenstein schrieb 1851 in seiner antijüdischen Schrift Ein Blick in das gefährliche Treiben der Judensippschaft:[17]
Das aber bildet eben den Grundcharakter dieser Nation, daß sie allem eigenen und fremden Staatsleben sich feindlich entgegenstellen und wie Parasiten an alle Völker sich anklammern, ohne diesen anders zu lohnen, als indem sie dieselben zu Grunde richten...Die Juden wollen die Herrschaft über Deutschland, ja über die ganze Welt erlangen. Deshalb werden sie nicht gehen, denn 'hier' können sie wie Vampyre das Blut der Christen saugen und in Palästina finden sie keine.
Wie viele andere Autoren verwendete er auch die Tiermetaphern der Spinne, die ihr Netz um die Welt spinnt, des Blutegels oder der gefräßigen Heuschrecken für Juden.
In den Jahren 1803-1805, 1812-1819, 1848ff waren judenfeindliche Schriften in der akademischen Literatur besonders oft vertreten. Sie setzten die mittelalterliche Tradition antijüdischer Hetzschriften im aufgeklärten, kirchenfernen Bürgertum fort und etablierten die Ressentiments, Abgrenzungs-, Deportations- und Vernichtungsrhetorik im öffentlichen Diskurs. Solche Ziele wurden also schon gut 100 Jahre lang erörtert, bevor der Rassebegriff für das Judentum aufkam.
Antijüdische Krawalle nach 1812
Die Reaktionen im Volk auf bürgerliche Emanzipation und intellektuelle Juden-Aversion ließen nicht lange auf sich warten. Im August 1819 breitete sich mit den Hep-Hep-Unruhen eine gewaltsame Krawallserie von deutschen Großstädten bis Kopenhagen und Amsterdam aus. Politisch und ökonomisch unzufriedene Handwerker, Bauern und Studenten gaben die Schuld an den Problemen der frühkapitalistischen Industrialisierung den Juden. Sie plünderten und zerstörten deren Häuser und Geschäfte, steckten Synagogen in Brand, misshandelten und ermordeten Juden mit dem Kampfruf:
Nun auf zur Rache! Unser Kampfgeschrei sei Hepp, Hepp, Hepp! Allen Juden Tod und Verderben, ihr müsst fliehen oder sterben!
„Hep“ wurde als Abkürzung eines alten Kreuzfahrer-Rufs Hierosolyma est perdita (lateinisch: „Jerusalem ist verloren“) und damit als Anspielung auf die Massaker der Kreuzzüge oder als Aufforderung Springt, haut ab analog zu Tieranrufen gedeutet. In den Flugblättern und Parolen der Krawallanten wurden Juden als „Christusmörder“ angegriffen. Hier kam die langanhaltende kirchliche Indoktrination zum Vorschein. Die Aufklärung hatte also nur eine schmale Schicht von Gebildeten erreicht, von denen auch nur wenige das Judentum und seine Emanzipation vorbehaltlos akzeptierten. Sie wurden nicht von der Masse der Bevölkerung getragen.
Auch in den Folgejahrzehnten gab es an vielen Orten Gewalttaten gegen Juden, teils als Begleitung des allgemeinen antifeudalen Protestes und revolutionärer Stimmungen, teils in Krisensituationen oder aus alten religiösen Motiven. In Hamburg wurden Juden 1830 und 1835 wie schon 1819 vom Jungfernstieg vertrieben. Angeregt durch Sensationsberichte über die Damaskusaffäre 1840 lebte auch die Ritualmordlegende wieder auf und führte in einigen Orten - u.a. Geseke, Oettingen, Thalmässing - zu teilweise monatelangen Ausschreitungen gegen Juden. Dabei wurden erneut Hepp, Hepp, Jude verreck!-Hetzrufe und die Parole Schlagt die Juden tot! laut. In Mannheim führte ein Regierungsbeschluss, eine Judenpetition für Gleichstellung zuzulassen, zu Volkskrawallen gegen Juden der Stadt. 1848 zerstörten Bauerngruppen in Leiningen im Taubertal Wohnungen von Juden, die sie als Gläubiger ansahen. In Baisingen verjagten bewaffnete Bauernknechte jüdische Bewohner mit dem Ruf „Geld oder Tod!" aus ihren Häusern und nötigten vorübergehend 230 Juden des Ortes zur Flucht. Sie versuchten, die Gemeinderäte zu erpressen, den Juden das Bürgerrecht zu nehmen, das die Allmende-Nutzung einschloss.
Im Verlauf der Revolution 1848/49 kam es besonders in süd- und ostdeutschen Regionen und etwa 80 Städten, darunter Berlin, Köln, Prag und Wien, zu schweren antijüdischen Exzessen. Neben Angriffen auf Symbole der Abhängigkeit - Kreditbriefe, Schuldenakten - wurden dabei immer wieder Vernichtungsdrohungen laut, sowohl von revolutionärer - meist Bauern - wie antirevolutionärer - meist Bürger - Seite, die den Juden für Not und Revolution die Schuld gaben.[18]

Rassismus und Sozialdarwinismus
Das kirchliche Mittelalter hatte Juden prinzipiell eine jenseitige Erlösung offengehalten, die sie durch die Taufe schon in diesem Leben erreichen konnten. Deshalb wurden jüdische Gemeinden zeitweise geduldet und von manchen Päpsten und Kaisern ausdrücklich geschützt. Freiwillig getaufte Juden waren vor weiterer Verfolgung meist relativ sicher.
Nur bei Zwangstaufen behielten andere Christen Vorbehalte gegen sie: besonders in Spanien unter Ferdinand II. (Aragón) und seiner Gemahlin Isabella I. von Kastilien. Auch nach der Massenvertreibung der spanischen Juden 1492 verfolgte die spanische Inquisition die im Land gebliebenen „Conversos“ als marranos („Schweine“), die ihre angestammte Religion angeblich oder tatsächlich heimlich weiter ausübten. Neuchristen jüdischer Herkunft wurden mit dem rassistischen Ideal der limpieza de sangre („Reinheit des Blutes“) aus den erreichten gesellschaftlichen Positionen wieder verdrängt.
Dieses Muster wiederholte sich im 19. Jahrhundert als Reaktion auf die Judenemanzipation. 1790 entwickelte der Göttinger Popularphilosoph Christoph Meiners (1747-1810) ein Rangsystem der Rassen, das Juden zwar über „Orang-Utans“, „Negern", „Finnen" (Lappen) und „Mongolen" skalierte, aber unter Weißen und Christen. Er folgerte daraus, dass sie weniger Rechte als diese beanspruchen könnten. Seit Ernest Renan war es zudem üblich, Juden als „Semiten" einen Mangel an Zivilisiertheit nachzusagen. Frühe Antisemiten wie Grattenauer und Hundt-Radowsky verglichen Juden direkt mit Affen, um ihnen die Menschenrechte abzusprechen und ihren Emanzipationsprozess, ihr Streben nach Bildung und Aufklärung als von vornherein lächerlich und illusorisch abzuwerten.[19]
Nach der rechtlichen Gleichstellung wurde der angebliche rassische zum welthistorischen Gegensatz überhöht: „Arier“ galten als zur Weltherrschaft berufene Bevölkerungsgruppe, „Semiten“ als ihre zur Unterlegenheit bestimmten Konkurrenten, die gleichwohl zur Zeit noch über die Arier herrschten. In vielen Variationen wurden diese populären Klischees nun rassistisch untermauert.
1853 begründete Arthur de Gobineau mit dem Aufsatz Die Ungleichheit der Rassen die Theorie des Rassismus. Auch er wies Juden einer anderen Rasse zu als Arier. 1858 erschien der bahnbrechende Aufsatz von Charles Darwin Über die Entstehung der Arten, der die Evolutionstheorie und moderne Genetik begründete, auf Deutsch. Darin erklärte er die Entwicklung der Arten aus den Prinzipien Variation, Vererbung und Selektion: Der „Kampf ums Dasein“ führe zu einer Auslese der dem Überleben angepasstesten Arten. In Analogie dazu deuteten Rassisten auch die Völkergeschichte als Ergebnis eines ewigen Kampfes von höher- und minderwertigen Rassen. Das bot Antisemiten die Möglichkeit, die „Judenfrage“ mit pseudobiologischen Argumenten als Rassenproblem zu propagieren.
So schrieb der österreichische Kulturhistoriker Friedrich von Hellwald (1842-1892) anknüpfend an Renan 1872 in einem Zeitungsartikel, Juden seien nicht einfach nur eine andere Religion, sondern eine völlig andere Rasse, eingewandert aus Asien. Diese Fremdartigkeit würden Europäer „instinktiv" spüren. Das sogenannte Vorurteil gegen Juden sei also ein natürliches, durch zivilisatorischen Fortschritt niemals zu überwindendes Gefühl. Der Jude sei Kosmopolit und besitze eine Schlauheit, mit der er dem ehrlichen Arier überlegen sei. Von Osteuropa aus grabe er sich als Krebsgeschwür in die übrigen europäischen Völker ein. Ausbeutung des Volkes sei sein einziges Ziel. Egoismus und Feigheit seien seine Haupteigenschaften; Selbstaufopferung und Patriotismus seien ihm völlig fremd.
Diese seit Mittelalter und Früher Neuzeit bekannten Sprachbilder der Entmenschlichung passten die Antisemiten der wissenschaftlichen Sprache an und übertrugen Begriffe aus der Bakteriologie, Mimikry-Theorie und Rassenlehre auf die jüdische Minderheit und ihr Verhältnis zur Mehrheit. Dabei wurden die Juden immer stärker nicht nur mit Schmarotzern, Volksschädlingen, Ausbeutern, Krebsgeschwüren, Ungeziefer, Seuchen, Blutsaugern, wuchernden Schlingpflanzen usw. verglichen, sondern identifiziert: Sie wirkten nicht nur ansteckend wie Pest oder wuchernd wie Krebs, sondern sie waren die Krankheit selbst. Stand im mittelalterlichen Aberglauben hinter ihnen der Teufel, also eine letztlich unbesiegbare dämonische Macht, so war es mit dem medizinisch-technischen Fortschritt vorstellbar, sich dieser „menschlichen Viren" radikal zu entledigen.[20]
Das verschloss Juden jede Möglichkeit, sich durch die christliche Taufe sozial anzupassen. Denn auch getaufte Juden blieben nun Juden, die von Juden – Vorfahren mit jüdischer Religion – abstammten, egal ob und wie lange ihre Vorfahren schon Christen waren. Damit war die Religionszugehörigkeit für Antisemiten nur noch als pseudobiologisches Merkmal wichtig, das Judesein zum unentrinnbaren Schicksal machte. Die Juden zugeordneten negativen Eigenschaften erschienen als „Erbgut“, das keinerlei Erziehung, Bildung, Integration und Emanzipation verändern könne. So wurden sie als nicht integrierbarer Fremdkörper in den europäischen Nationen dargestellt und ihre völlige Vertreibung aus ganz Europa als einzig realistische „Lösung der Judenfrage" nahegelegt. – Darwin distanzierte sich 1880 von diesem politischen Missbrauch seiner Theorie.
Der Rassismus verschärfte auch die allgemeine Fremdenfeindlichkeit: Er untermauerte die Ablehnung anderer Völker nach außen und ethnischer oder anderer Minderheiten nach innen. Völkisch definierte „Fremde“ konnten nun als „Artfremde“ eingestuft werden. So wuchs parallel zum Antisemitismus in ganz Europa z.B. die Ablehnung der Sinti und Roma oder – im Rahmen des Antislawismus – der Sorben.
Politischer Antisemitismus im Kaiserreich
Nach der gewaltsamen Reichsgründung von 1871 sollte der Patriotismus die zerrissene bürgerlich-liberale Gesellschaft einen. Minderheiten, vor allem den Juden, wurde oft ein Mangel an „wahrem Deutschtum“ unterstellt. Politisch-soziale Widersprüche und ökonomische Krisen im nationalen Einigungsprozess wurden ihnen angelastet.
Auf den Börsenkrach 1870 folgte 1873 im Gefolge einer weltweiten Depression ein Gründerkrach. Viele Bauern, Händler und Bürger verloren ihre Ersparnisse und mussten ihre Firmen aufgeben, während Großindustrielle und Bankiers Verluste besser auffangen konnten. Da sich unter letzteren relativ viele Juden befanden, machte der abstiegsbedrohte Mittelstand alle Juden für die Pleitewelle verantwortlich. Nun ergriff der Antisemitismus breite Bevölkerungsschichten: Viele neu gebildete Vereine machte ihn zu ihrem Programm.
Im selben Jahr begann der Journalist Wilhelm Marr (1819–1904) seine antisemitische Publizistik, mit der er Gobineaus säkularrassistische Ideen übernahm, aber nur die Juden als besondere „Rasse“ kennzeichnete, um sie ideologisch besser ins Visier nehmen zu können. Dabei konnte er auf fortbestehende kirchliche, aufgeklärte und völkisch-nationale Judenbilder zurückgreifen.
Stärker ökonomisch argumentierte Otto Glagau (1834–1892) in einer vielgelesenen Artikelserie in der Gartenlaube (1874), dann mit Schriften über den angeblichen Börsen- und Gründungsschwindel in Berlin (1875) und Bankerott des Nationalliberalismus und die 'Reaktion' (1878). Auch er wandte sich an ruinierte Mittelständler und Kleinbürger und mobilisierte deren überkommene christliche Vorurteile gegen Juden.
Anfang 1878 gründete der lutherische Hofprediger Adolf Stoecker (1835–1909) die Christlichsoziale Partei als Gegenpartei zur Sozialdemokratie. Er wollte zunächst die Arbeiter für eine „Rechristianisierung" der Gesellschaft und Akzeptanz des vom protestantisch-konservativen Preußen geführten Kaiserreichs gewinnen. Doch fand er weitaus mehr Anhänger im ökonomisch bedrohten Kleinbürgertum und Mittelstand, die ihn drängten, sich zur „Judenfrage" zu positionieren. Daraufhin forderte er seit September 1879 die Begrenzung des vermeintlichen jüdischen Einflusses auf die Politik und wurde so populär. Stoecker initiierte die Berliner Bewegung, die in den 1880er Jahren verschiedene antisemitische und konservative Kräfte bündeln konnte. Seine Ideen wirkten stark auf den deutschnationalen Protestantismus ein.
1879 gilt als Geburtsjahr des „modernen" Antisemitismus, in dem sich deutschnationale, antiliberale, antikapitalistische und rassistische Motive verknüpften und im Bürgertum reichsweit gesellschaftsfähig wurden. Undurchschaute Krisenphänomene, die die Industrialisierung, Kapitalisierung und Internationalisierung der Märkte begleiteten, wurden auf eine angebliche kulturelle, politische und ökonomische Dominanz der jüdischen Minderheit zurückgeführt. Das Judentum stand für eine Infiltration der Nation mit ihr fremden Ideen und Tendenzen, für egoistisches Gewinnstreben und kalten Rationalismus. Britischer Manchesterliberalismus und sozialistischer Internationalismus wurden gleichermaßen auf jüdisches „Wesen“ zurückgeführt. So münzte man die Emanzipation der Juden in eine „Emanzipation von den Juden" um, die notwendige Bedingung für nationale Identitätsfindung sei.
In jenem Jahr erschien Marrs Buch Der Sieg des Judenthums über das Germanenthum. Es fand reißenden Absatz und erreichte schnell 11 Auflagen. Daraufhin gründete er die „Antisemiten-Liga“ als erste deutsche Gruppe, die sich dem Kampf gegen eine angebliche jüdische Bedrohung verschrieb. Ihr erklärtes Ziel war die Vertreibung der Juden aus Deutschland. Sprachrohr dafür war das Hetzblatt Deutsche Wacht, das Marr zweimal monatlich herausgab.
Im selben Jahr ergriff der Berliner Antisemitismusstreit monatelang die Hauptstadt und die Akademikerzunft: Der Historiker Heinrich von Treitschke (1834–1896) griff Stöckers Forderungen auf und schrieb in einem Artikel den verhängnisvollen, später von den Nationalsozialisten übernommenen Satz: Die Juden sind unser Unglück. Dagegen kritisierte sein angesehener Kollege Theodor Mommsen (1817–1903) die um sich greifende allgemeine Judenfeindschaft scharf. Zwar blieb Treitschke an der Humboldt-Universität danach isoliert; doch nun war die „Judenfrage" auch als „wissenschaftliches“ Thema etabliert.
Der hochdekorierte Veteran des Deutsch-Französischen Krieges Max Liebermann von Sonnenberg (1848–1911) initiierte zusammen mit dem Lehrer Bernhard Förster (1853–1889) – einem Schwager von Friedrich Nietzsche – im Sommer 1880 eine „Antisemitenpetition“. Sie forderte u.a. eine separate Besteuerung von Juden, ihren Ausschluss von allen Regierungsämtern, vom öffentlichen Dienst und Bildungswesen sowie ein Verbot jüdischer Einwanderung nach Deutschland. Vermittelt durch Förster bildeten sich an vielen Universitäten Ausschüsse zur Unterstützung der Petition, aus denen die ersten Vereine Deutscher Studenten hervorgingen. Auch Marrs Liga mobilisierte ihre Anhänger dafür. 250.000 Bürger unterzeichneten die Petition binnen Jahresfrist; Sonnenberg brachte sie in den Reichstag ein. 1881 gründete er den patriotisch-konservativen Deutschen Volksverein sowie die Deutsche Volkszeitung. Diese half, das Schlagwort „Antisemitismus“ im ganzen Deutschen Reich zu verbreiten.
Glühende Antisemiten der 1880er Jahre waren auch:
• Dr. Ernst Henrici (1854–1915), der 1880 reichsweit mit antisemitischen Hetzreden Wähler für seine Soziale Reichspartei zu gewinnen suchte. Er bezeichnete sich selbst als „Brandstifter", griff auch Kirchen und Obrigkeit an und löste häufig Tumulte und Prügeleien aus.
• der als „Judenschläger“ bekannte Graf Pückler auf Branitz, der die Bauern seiner Region aufrief, Juden totzuprügeln.
• der Nationalökonom Eugen Dühring (1833–1921). Sein populäres Buch Die Judenfrage als Racen, Sitten und Kulturfrage von 1881 erklärte die Kluft zwischen Ariern und Semiten für unüberbrückbar und forderte, die Juden wieder in Ghettos zu zwingen. Er sah die Juden als „Drahtzieher“ der Krisenphänomene und sozialen Missstände der Industrialisierung, deren angeblich übermächtigen Einfluss es auszuschalten gelte:[21]
Der unter dem kühlen nordischen Himmel gereifte nordische Mensch hat die Pflicht, die parasitären Rassen auszurotten, wie man eben Giftschlangen und wilde Raubtiere ausrotten muss!
Auf dem „Antisemitischen Kongress“ von 1882 versuchten diese Wortführer mit etwa 400 ihrer Anhänger gemeinsame Ziele zu finden. Dies gelang nur begrenzt, so dass das abschließende Manifest an die Regierungen und Völker der durch das Judenthum gefährdeten christlichen Staaten keine konkreten politischen Forderungen erhob. Der zweite, von Dühring dominierte radikalere Kongress von 1886 hatte nur noch 40 Teilnehmer.
Die Hetzpropaganda wurde umso intensiver: Ab 1885 verwendeten Marrs Zwanglose Antisemitische Hefte „Semitismus“ als feststehenden Sammelbegriff für alle bürgerlich-liberalen Erscheinungsformen: Aufklärung, Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit, Kulturaustausch, individuelles Glücksstreben, Demokratie, Kapitalismus. Diese galten als Ausdruck einer fremden, „jüdischen" Gegenkultur, die man als Patriot fundamental bekämpfen müsse. Die Juden seien die eigentlichen Urheber alles „Modernen“ und „Schädlichen“: Dieses Feindbild richtete sich vor allem gegen ihre rechtliche Gleichstellung und soziale Emanzipation. Es ersetzte die Analyse der tatsächlichen Ursachen der sozialökonomischen Probleme und Kritik an der Politik der Reichsregierung. Bis 1890 erschienen im Kaiserreich an die 500 Schriften, die sich in diesem Sinne mit der „Judenfrage“ befassten. Hinzu kamen mindestens 120 antisemitisch ausgerichtete Tageszeitungen, Monatsblätter und Vereins-Publikationen.
Auch parteipolitische Bestrebungen wurden verstärkt: Otto Böckel (1859–1923) gründete 1886 seine Deutsche Reformpartei, die sich noch im selben Jahr mit weiteren Gruppen zur Deutschen antisemitischen Vereinigung zusammenschloss. Böckel saß seit 1887 im Reichstag und trug sich dort stolz als erster „Antisemit“ ein. 1889 schlossen sich Stoeckers und Sonnenbergs Anhänger zur neuen Deutschsozialen Partei zusammen, Böckel gründete mit weiteren Gruppen 1890 die Antisemitische Volkspartei. Beide neuen Parteien forderten die Aufhebung der Emanzipationsgesetze, verhöhnten liberale Gleichstellungsparteien im Wahlkampf als „Judenschutztruppe“ und gewannen bei den Reichstagswahlen desselben Jahres knapp drei Prozent der Stimmen.
1893 errangen beide Antisemitenparteien zusammen 18 Reichtagsmandate. 1894 vereinigten sie sich unter Führung Böckels zur Deutschsozialen Reformpartei. Ihr Programm baute auch auf den Rassentheorien von Houston Stewart Chamberlain (1855–1927) auf und redete erstmals von der „Endlösung der Judenfrage“. 1899 hieß es darin:[22]
Dank der Entwicklung unserer modernen Verkehrsmittel dürfte die Judenfrage im Laufe des 20. Jahrhunderts zur Weltfrage werden und als solche von den anderen Völkern gemeinsam und endgültig durch völlige Absonderung und (wenn die Notwehr es gebietet) schließliche Vernichtung des Judenvolkes gelöst werden.
Abgesehen von der „Judenfrage" waren die Ziele der Antisemitenparteien jedoch widersprüchlich: Während die einen Arbeiter, Bauern und Mittelstand für den Nationalstaat gewinnen wollten, richteten die anderen ihren Nationalismus gegen Adel, kirchliche und staatliche Konservative und die im Reichstag führende Nationalliberale Partei. So agitierte z.B. der Lehrer Hermann Ahlwardt landesweit gegen „Junker und Juden“. 1890 behauptete er in seinem Buch Der Verzweiflungskampf der arischen Völker mit dem Judentum, alle Berufe und Stände seien vom jüdischen Wucher beherrscht, belegte dies aber nur mit seinen privaten Finanzproblemen. 1894 legte er ein Programm vor, das vorsah, alle Großgrundbesitzer zu enteignen und ihren Besitz in Gemeineigentum zu überführen. - Theodor Fritsch versuchte 1885 mit der Zeitung Antisemitische Correspondenz, die zerstrittenen Antisemiten zusammenzuführen. Dazu verfasste er 1887 einen damals weit verbreiteten Antisemiten-Katechismus. - Aufgrund innerer Uneinigkeit verloren sie danach jedoch wieder an Stimmen. Bei der Reichstagswahl 1903 erhielten ihre Parteien nur 3,5 Prozent (11 Mandate). 1907 stellten sie noch sieben Abgeordnete. Sonnenberg saß bis 1911 im Reichstag. Keins der Ziele seiner Petition von 1879 wurde im Kaiserreich erreicht.
Aber der politische Antisemitismus war nicht an bestimmte Parteien gebunden und wirkte viel weiter, als deren Stimmenanteile vermuten lassen. Viele Vereine blieben seit 1880 antisemitisch eingestellt, u.a. die Deutsche Turnerschaft, der Reichskammerbund und das angesehene Offizierskorps. Über andere Themen wie etwa die Flottenaufrüstung oder Schutzzölle gegen englische Importe konnte sich das Bild der „jüdischen Ausbeuter“ und ihrer „zersetzenden“ Demokratie-Ideen in breiten Bevölkerungsschichten festsetzen.
Besonders folgenreich war der Antisemitismus an den Hochschulen. Viele dort ausgebildeten Akademiker, Juristen, Ärzte, Ingenieure, Lehrer und Pastoren beteiligten sich dauerhaft an der antisemitischen Agitation, benachteiligten Juden aktiv und trugen so zu ihrer zunehmenden Verdrängung aus staatlichen Ämtern und gesellschaftlichen Ächtung bei. Auch ihre Fachverbände wurden seit etwa 1890 von der antisemitischen Welle erfasst. Viele Studentenverbindungen, als erstes 1886 der Kyffhäuserverband, schlossen Juden aus ihren Reihen aus.
Neue, nun ausdrücklich als antisemitische Interessengruppen gegründete Verbände kamen ab 1893 hinzu:
• der Bund der Landwirte, der rasch in den agrarischen Ländern Preußens Fuß fasste. Dafür sorgten auch Aktivisten der Studentenvereine wie Diederich Hahn und Zeitungsverleger wie Otto Schmidt-Gibichenfels.
• der Deutschnationale Handlungsgehilfenverband für Angestellte und Handwerker. Er gewann rasch Einfluss auch unter vielen evangelischen Jugendverbänden. Dort sah man Antisemitismus als einzige richtige weltanschauliche Alternative zu Liberalismus und Sozialismus. Viele spätere Parteipolitiker gingen aus ihm hervor.
• der Alldeutsche Verband. Er wollte nach Bismarcks Entlassung und der Aufhebung der Sozialistengesetze 1890 bewusst einer großdeutschen imperialistischen Politik im Volk zum Durchbruch verhelfen. Mit der postulierten Unterordnung der Deutschen unter einen „Gesamtwillen der Nation" wurde er zunehmend antisemitisch.
• der Deutschbund, gegründet von Friedrich Lange 1894. Sein Ziel war die „Pflege deutscher Art", sein Organ die Tägliche Rundschau.
• die Gobineau-Gesellschaft, die sich der Förderung der „nordisch-germanischen Rasse" widmete, Gobineaus Werke ins Deutsche übersetzen ließ und publizierte.
Zwar hatten diese rassistischen Gruppen nur wenige Mitglieder; doch ihre Veröffentlichungen wirkten nachhaltig auch auf die sonstigen antisemitischen Verbände ein und bestimmten deren politische Schulung mit.
Die Erfolge antisemitischer Agitation beeinflussten die Konservative Partei: Diese nahm 1892 einen Teil antisemitischer Forderungen in ihr Parteiprogramm auf. Auch die katholische Zentrumspartei ließ - nicht zuletzt wegen der Haltung von Papst Pius IX., der Juden seit 1872 der Neigung zu Anarchismus und Freimaurerei bezichtigte - antisemitische Abgeordnete auf ihren Listen kandidieren. Auch einige Sozialisten äußerten sich judenfeindlich, so Johann Baptist von Schweitzer, Präsident des ADAV, und die Redakteure sozialdemokratischer Zeitungen Wilhelm Hasselmann und Richard Calwer. Franz Mehring, enger Freund der Jüdin Rosa Luxemburg und Parteihistoriker, sprach oft abfällig und feindselig über Juden. In sozialdemokratischen Unterhaltungsblättern - z.B. dem Wahren Jakob, Süddeutschen Postillon oder der Neuen Welt - tauchten ab 1890 in Witzen, Karikaturen und Alltagsgeschichten jene judenfeindlichen Klischees auf, die sich in den vergangenen Jahrzehnten als soziale Normalität etabliert hatten: Juden werden als vom Profitstreben gelenkte, gerissene Schacherer und Wucherer, Börsenjobber und Händler ohne Geschäftsmoral dargestellt. Die Klischees unterschieden sich in Nichts von denen der bürgerlichen Literatur, die auch Romane wie Der Jude von Karl Spindler, Der Büttnerbauer von Wilhelm von Polenz u.a. immer wieder unter das Volk brachten.
Die SPD nahm jedoch seit ihrer Gründung nie antisemitische Forderungen in ihr Programm auf und war die einzige Partei im Kaiserreich, die dieser Ideologie offen widersprach. Typisch für ihren Fortschrittsglauben war aber, dass ihre Führer den verachteten „Radau-Antisemitismus" weit unterschätzten. So erklärte Wilhelm Liebknecht 1893: Ja, die Herren Antisemiten ackern und säen und wir Sozialdemokraten werden ernten. Ihre Erfolge sind uns also keineswegs unwillkommen. August Bebel, für den Antisemitismus „der Sozialismus der dummen Kerls" war[23], glaubte, sie hätten nie Aussicht, irgendeinen maßgebenden Einfluß auf das staatliche und soziale Leben auszuüben.[24]
Jüdische Reaktionen
1879 erklärte der jüdische Historiker Harry Breßlau, „Juden“ und „Semiten“ seien nicht identisch. Er werde das Wort „Jude“ weiterhin verwenden, aber nur für die Herkunft, nicht die Religionszugehörigkeit von Juden:
Um jedes Missverständnis auszuschließen, bemerke ich, dass ich diejenigen im Sinne dieser Erörterungen als Juden betrachte, deren beide Eltern als Juden geboren sind.
Damit reduzierte er Judesein seinerseits auf die Abstammung und trennte diese von der Religionszugehörigkeit. Doch diese Säkularisierung der Begriffe begünstigte nur die Gleichsetzung von Juden mit einer angeblichen „semitischen Rasse“. 1895 definierte der Brockhaus „Semitismus“ als Bezeichnung für das ausschließlich vom ethnologischen Standpunkt aus betrachtete Judentum.
Der jüdische Arzt Leo Pinsker bereiste unter dem Eindruck der Pogrome in Russland von 1881 ganz Europa. Er sah in dem Umsichgreifen des Rassenwahns eine „Judäophobie“, die er als eine Geisteskrankheit beschrieb: Ihm war das Erscheinungsbild vertraut, wonach sich gegenseitig verstärkende „Gewissheiten“ eine mentale Störung anzeigten. Er folgerte in seinem Aufsatz „Autoemanzipation“ 1882 daraus die Notwendigkeit eines eigenen jüdischen Landes und wurde damit ein Pionier des Zionismus.
Auf die vermehrte Propaganda und Parteienbildung der Antisemiten reagierten religiöse Juden und judenfreundliche Christen 1891 mit der Gegengründung des Vereins zur Abwehr des Antisemitismus. 1893 bildeten Kreise des liberalen Bürgertums in Berlin den Central-Verein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens. Doch diese hatten auf die generelle Entwicklung kaum Einfluss und suggerierten ihren Mitgliedern nur, doch irgendwie zur bürgerlichen Gesellschaft zu hören.
Unter dem Eindruck der Dreyfus-Affäre in Frankreich schrieb Theodor Herzl 1896 sein Buch Der Judenstaat, das den politischen Zionismus begründete. Ein Jahr darauf berief er den 1. Zionistenkongress nach Basel ein. Doch die meisten Juden rangen weiterhin um Anerkennung und Gleichberechtigung im Kaiserreich. Folglich meldeten sich viele freiwillig zur Front, als der Erste Weltkrieg ausbrach. Sie wurden oft für besondere Tapferkeit ausgezeichnet und glaubten, dass ihre Eisernen Kreuze sie vor weiteren Verfolgungen schützen könnten.

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